pLASTIKMÜLL AM sTRAND

Am Rande des Kollaps

Klimawandel, Überfischung, Müll: Die Meere brauchen dringend Schutzzonen und Rückzugsräume für bedrohte Arten, damit sich die marinen Kreisläufe wieder erholen können. Die kommenden 12 Monate bieten auf internationaler Ebene viele Chancen, den Zusammenbruch der Ökosysteme und das Artensterben noch zu verhindern.

Der Ozean ist der größte Lebensraum unseres Planeten. Seine Größe, seine Kraft und seine atemberaubend schönen Bewohner faszinieren Menschen seit Jahrhunderten.

Doch in den vergangenen Jahrzehnten haben wir ihn an den Rand des Kollapses gebracht. Unsere Art zu wirtschaften und die Ressourcen der Meere auszubeuten führt unweigerlich zu einem Zusammenbruch der marinen Ökosysteme. Die bisherigen Schutzmaßnahmen werden eine Katastrophe nicht aufhalten können.

Nirgendwo sonst ist dies eindrücklicher zu ­sehen, als am Great Barrier Reef in Australien. Riesige Flächen dieses einstigen Hotspots der Artenvielfalt sind verbleicht und abgestorben. Schlimmer noch: Bei einer Erhitzung des Planeten von 2 Grad Celsius werden 99 Prozent der Korallen weltweit sterben. Korallen sind aber nicht nur die Kinderstube zahlreicher Fischbestände, sie beherbergen insgesamt etwa ein Viertel der gesamten marinen Spezies. Ihr Verlust wäre für unseren Planeten kaum verkraftbar.

Doch auch vor der eigenen Haustür steht es um die Meere nicht gut. An den europäischen Stränden sammelt sich der Plastikmüll, die meisten Fischbestände sind überfischt und der Schutz der Meere existiert bisher fast nur auf dem Papier. Obwohl offiziell 45 Prozent der deutschen Meeresfläche als geschützt gilt, ist der Zustand von Nord- und Ostsee katastrophal. Innerhalb der deutschen Meeresschutzgebiete wird seit Jahren sogar intensiver gefischt als außerhalb. Unser einziger heimischer Wal – der Schweinswal – ist deshalb vom Aussterben bedroht. Allein in den vergangenen zehn Jahren wurden über 3.400 tote Tiere an den deutschen Stränden gefunden, viele davon starben als Beifang in Fischernetzen. In deutschen Meeresschutzgebieten findet außerdem weiter Kies- und Sandabbau statt: Anfang dieses Jahres hat die niedersächsische Landesregierung mitten im Sylter Außenriff ein neues Bergbauvorhaben genehmigt. Das bedeutet unter anderem, dass in diesem Schutzgebiet in den nächsten vier Jahren zwei Millionen Kubikmeter Kies und Sand abgetragen werden. Das Label Meeresschutz wird so ad absurdum geführt.

In den kommenden zwölf Monaten gibt es wichtige Gelegenheiten, den Schutz der Meere endlich wirksam voranzutreiben. Im Herbst treffen sich die Mitgliedsstaaten der Antarktiskommission, um über die Einrichtung des größten Meeresschutzgebiets der Welt zu beraten, und zwar im antarktischen Weddellmeer. In New York verhandelt die Staatengemeinschaft derzeit darüber, die Hohe See unter Schutz zu stellen, und Anfang 2021 kommen die Vertragsstaaten der Konvention für biologische Vielfalt in China zusammen, um ein neues Abkommen zum Erhalt der Natur und Artenvielfalt zu beraten. Eine Koalition von Staaten – zu denen auch die Bundesrepublik Deutschland gehört – fordert im Rahmen dieses Abkommens, 30 Prozent der Weltmeere bis zum Jahr 2030 unter Schutz zu stellen.

Dies sind großartige Chancen, der Rettung der Weltmeere endlich oberste Priorität einzuräumen. Und es wird höchste Zeit: Wir brauchen schnell klar definierte, weltweit geltende Standards für Schutzgebiete, die wir als grüne Bundestagsfraktion in verschiedenen Anträgen immer wieder gefordert haben. Das oben beschriebene Beispiel der Nord- und Ostsee zeigt, wie wenig der Status eines Schutzgebietes derzeit wert ist. Wir brauchen vor allem weiträumige Nullnutzungszonen, in denen keine menschliche Aktivität erlaubt ist, in denen die Meere wieder sich selbst überlassen werden. Nur dann können sie sich langfristig erholen. Industrielle Ausbeutung der Tiefsee durch riesige Bergbauvorhaben muss genauso abgelehnt werden wie gefährliche Experimente durch marines Geoengineering, bei dem großflächige Eingriffe in die Natur als Beitrag zum Klimaschutz gehandelt werden.

Plastikflasche im Wasser schwimmend

Im Juli dieses Jahres gab es ein erstes virtuelles Vernetzungstreffen grüner Akteur/innen zum Meeresschutz. Gemeinsam mit vielen NGOs wollen wir ihm mehr öffentliches Gewicht geben. Denn der auch von uns gelobte Green Deal der EU-Kommission hat mindestens ­einen ­großen Pferdefuß: Er formuliert die Idee, den derzeit zu hohen Nutzungsdruck auf die terres­trischen Systeme auf das Meer zu verlagern und die Meeresressourcen mittels der Blue Economy – dem falschen Versprechen von nachhaltigem Wirtschaftswachstum auf den Meeren – stärker zu nutzen. Das ist eine Kampfansage an den Meeresschutz und darf so nicht umgesetzt werden.

Die kommenden zwölf Monate werden wichtige Weichen für die Weltmeere stellen und sie hoffentlich am Ende wirksamer schützen als bisher.


Steffi Lemke ist parlamentarische Geschäftsführerin und naturschutzpolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion. Im Umweltausschuss des Deutschen Bundestags ist sie Berichterstatterin für das Thema Meeresschutz. Sie setzt sich seit vielen Jahren für wirksamen Meeresschutz ein.

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